Über Deutschland, Vogelschisse und Nationalstolz
Die Nazizeit sei nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte, meint der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland. Auf den Rest solle man stolz sein. Auf was eigentlich genau, fragt sich Ingar Solty, Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ein Debattenbeitrag.
Heute [gestern, vorgestern…] vor 77 Jahren begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Er wurde von Anfang an als Vernichtungskrieg geplant. Der Generalplan Ost, erstellt vom SS-Reichssicherheitshauptamt und dem Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik der Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität), sah die Vernichtung oder Vertreibung von mindestens 30 Millionen Menschen und die Ansiedlung von vier bis zwölf Millionen Deutschen vor. Leningrad sollte vernichtet werden und wurde es: allein beim planmäßigen Aushungern der russischen Stadt starben 1,1 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten.
Die deutschen Kriegsziele sahen vor, die slawischen Völker erst im Namen der Freiheit und der “nationalen Selbstbestimmung” in ihre Völkersplitter aufzusprengen, ihren Nationalismus gegen die Sowjetunion anzuheizen, um dann nach der Zerschlagung der Sowjetunion die überlebenden Reste als analphabetische Arbeitskräfte zu versklaven und die Rohstoffvorkommen für die deutschen Industrieunternehmen auszuplündern. Die Gebiete westlich des Ural sollten dann in eine von Deutschland ökonomisch und politisch informell beherrschte, auf privatkapitalistischem Unternehmertum beruhende, europäische Großraumwirtschaft eingegliedert werden. Im deutschen Vernichtungskrieg im Osten und der Befreiung Osteuropas und auch Deutschlands vom deutschen Faschismus starben mehr als 27 Millionen Russen. Sie trugen bei der Befreiung Osteuropas und Deutschlands vom Faschismus die Hauptlast der insgesamt 55 Millionen Toten des von Deutschland entfesselten und im Osten als Vernichtungskrieg geführten Weltkrieges.
Auf welchen kolonialen, kriegstreiberischen, feudalen oder ausbeuterischen Moment ist Gauland eigentlich genau stolz?
Der AfD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland nennt dies alles einen Vogelschiss in der deutschen Geschichte. Er will die zwölf Jahre Nazifaschismus, Krieg und Holocaust in ihrer Bedeutung für die Gesamtgeschichte Deutschlands herunterspielen, um mit Verweis auf die übrigen Jahre in “Tausend Jahren” deutscher Geschchte wieder stolz sein zu können. Lassen wir es dahingestellt sein, dass es Deutschland erst seit 1871 gibt, geboren im Krieg, geeint von oben und sehr schnell imperialistisch-expansiv, dann möchte man Herrn Gauland fragen, worauf genau er denn da eigentlich stolz ist:
Auf Jahrhunderte feudaler Ausplünderung der bäuerlichen Volksmassen und ihre blutige Niederschlagungen, als sie sich in den Deutschen Bauernkriegen des frühen 16. Jahrhnderts endlich, endlich wehrten? Auf 1.000 Jahre feutdaler und kapitalistischer Ungleichheit und Ausbeutung? Auf die Verfolgung und Verbrennung von Frauen, die sich gegen patriarchale Unterdrückung wehrten oder sonstwie unruly verhielten, als Hexen? Meint Herr Gauland Jahrhunderte der Unterdrückung von bürgerlichen Rechten und Verfolgung von Demokraten, die Tradition der deutschen Berufsverbote von den Karlsbader Beschlüssen 1819 über die Sozialistengesetze 1878-1890, die Nazi-Berufsverbote 1933ff, den Adenauer-Erlass 1950ff oder den Radikalenerlass 1972-1979?
Oder meint er vielleicht die koloniale Aufteilung der Welt auf der Berliner Kongokonferenz 1884/85 und Deutschlands Anteil am kolonialen Genoziderbe Europas (wie den Völkermord an den Hereros 1904-1908, bei dem die deutschen Kolonialherren innerhalb von vier Jahren zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der einheimischen Bevölkerung ermordeten)? Oder vielleicht meinen Gauland und die AfD, die sich hinter ihren Partei- und Bundestagsfraktionsvorsitzenden gestellt hat, den Ersten Weltkrieg, auf den die deutschen Herren zielstrebig zugesteuert waren (Kaiser Wilhelm 1905: “Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn möglich per Blutbad und dann Krieg nach außen; aber nicht vorher und nicht a tempo”) und in den sie das deutsche Volk hetzten (“Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos’”), während das Volk zuhause hungerte, bis es sich dann endlich, endlich von den Butterkrawallen bis zu den Massenstreiks von 1917/18 wehrte, eine Revolution erfocht, um dann in der “zweiten Revolution” von der eigenen Regierung massakriert und hier, in Friedrichshain/Lichtenberg, wo ich wohnte, sogar aus Flugzeugen bombardiert zu werden? Oder will Gauland auch einfach nur stolz sein auf die Eigentumsverhältnisse- und Nazi-Elitenkontinuität in der BRD nach 1945, auf die alten Nazis in Justiz, Hochschulen, Verwaltung, Politik, Militär und Geheimdiensten, auf die Jahrzehnte lang verschleppte Entschädigung der Opfer der Nazibarbarei?
Auf welche Momente der deutschen Geschichte wir stolz sein können
Denn bislang hat man von Gauland und der AfD ja noch keinen Stolz vernommen in Bezug auf die guten und großartigen Momente der deutschen Geschichte: auf den Mut von Menschen, sich gegen diese Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zu wehren, auf die deutsche Arbeiterbewegung und ihre heroische Geschichte, auf den deutschen Widerstand gegen den Faschismus, der vor allem aus und von der (revolutionären) Arbeiterbewegung getragen wurde, auf die sozialen und kulturellen Errungenschaften und das Aufarbeiten von Fehlern beim ersten Sozialismusversuch in Deutschland, auf die proletarische und bürgerliche Frauenbewegungen, die die Frauenemanzipation erkämpften und es weiter tun, auf die Umweltbewegung, die die Natur vor dem Raubbau des Kapitalismus schützen, auf die LGBTQI-Bewegung, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung erkämpft, die großen deutschsprachigen Künstlerinnen und Künstler, deren Werke in Auseinandersetzung mit und zumeist im offenen Gegensatz zu den herrschenden Verhältnissen entstanden und wofür sie oft eine hohen Preis zu entrichten hatten, oft in und von den Herren in diesem Deutschland verfolgt wurden.
Denn alles, was an Deutschland gut ist und war, was das Leben hier heute einigermaßen erträglich macht, wurde stets erkämpft und wird von oben, soviel wissen wir seit der Agenda 2010, nur so lange geduldet, wie es mit den Profitinteressen der ökonomisch Herrschenden vereinbar ist und wir gewillt sind, es zu verteidigen. Alles, was an Deutschland gut ist und war, war immer das andere Deutschland, das es auch noch gab, immer. Und alles, was gut ist und war, war immer international und solidarisch. Denn die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten.
Nichtsdestotrotz dürfen wir auch stolz sein, auch auf Deutsches. Aber unser Stolz kann sich nur auf die Geschichte von unten beziehen, hier in Deutschland und überall auf der Welt. Weil die Siege von unten weltweit nützen den Siegen von unten hier. Und weil die Niederlagen weltweit auch Niederlagen für das andere Deutschland, für die Menschen hier sind.