13. Oktober 2023
Statement des SDS-Bundesvorstands zur Situation in Israel/Palästina
Die Ereignisse in Israel und Palästina erschüttern uns zutiefst. Wir betrauern die Toten, unsere Gedanken sind bei all denjenigen, die in den letzten Tagen auf beiden Seiten Angehörige oder Freund*innen verloren haben oder sich derzeit um deren Wohl sorgen müssen. Wir stehen auch an der Seite unserer Genoss*innen in der Diaspora und all derer, die in den nächsten Tagen und Wochen zunehmende Repression, Kriminalisierung oder Angriffe fürchten müssen. Auch nach einigen Tagen können wir nur versuchen, die richtigen Worte zu finden. Mit Blick auf die Eskalation vor Ort, die Situation der Menschen in der Diaspora und der Linken hierzulande sehen wir es aber als geboten an, uns zur aktuellen Situation zu äußern.
Was ist geschehen?
Am vergangenen Samstag ist es zum größten Angriff der Hamas und assoziierter Kämpfer auf Israel gekommen. Erstmals haben dutzende Kämpfer den Zaun um Gaza niedergerissen und durchbrochen. Den Menschen in Gaza ist damit erstmals der Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis gelungen, was für viele Palästinenser*innen überhaupt eine Möglichkeit des Widerstands gegen die Unterdrücker bedeutet hat. Daraufhin folgten Kämpfe, unter anderem in israelischen Grenzstädten sowie ein Angriff auf ein Festival in der Nähe von Re’im. Die Angreifer haben dabei hunderte Menschen umgebracht und entführt. Die vielfach dokumentierten Gräueltaten und Kriegsverbrechen, die mit dem Angriff einhergingen, verurteilen wir entschieden. Am selben Tag des Angriffs hat Israel mit der Bombardierung des Gazastreifens in einem nie dagewesenen Ausmaß begonnen.
Hintergrund: Besatzung & Siedlungskolonialismus
Es ist wichtig, diese Ergebnisse in ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Diese Kontextualisierung dient keinesfalls dazu, die derzeitigen Verbrechen zu rechtfertigen, sondern dazu, die Gesamtsituation einzuordnen und Möglichkeiten eines Endes der Gewalt vor Ort aufzuzeigen. Denn die Gewalt der letzten Tage ist nicht aus dem Nichts entstanden, sondern folgt, wenn auch nicht mit Notwendigkeit, auf die jahrelange Unterdrückung von Palästinenser*innen und der gewaltvollen Besatzungspolitik durch Israel. Dies wird in der Berichterstattung und Stellungnahmen hierzulande zu oft ausgeblendet. Besonders drastisch ist die Lage in Gaza. Seit 2007 ist der Gazastreifen von Israel zu Lande, zu Wasser und aus der Luft vollständig abgeriegelt, es gibt keinen annähernd menschenwürdigen Zugang zu Trinkwasser, Lebensmitteln, Energie, medizinischer Versorgung, geschweige denn Bildung. Die Menschen in Gaza, von denen über die Hälfte minderjährig sind, leben seit Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen im größten Freiluftgefängnis der Welt. Und immer wieder sind sie Luftangriffen ausgesetzt, bei denen Familien ihr Zuhause und Zivilist*innen ihr Leben verlieren.
Die Bildung der rechtsradikalen Regierung in Israel hat unterdes die Siedler*innen weiter radikalisiert, indem sie unter anderem die vollständige völkerrechtswidrige Annexion des Westjordanlands in Aussicht stellte. Die Palästinenser*innen sind willkürlichen Demütigungen, Übergriffen, ungerechtfertigten Inhaftierungen und Vertreibungen aus ihren Wohnhäusern ausgesetzt. Israelisches Militär und militante Siedler*innen dringen in Ortschaften ein, greifen die Bewohner*innen an und töten Zivilist*innen.
Solidarisierung mit dem palästinensischen Befreiungskampf
Die derzeitige Gewalteskalation ist ein Resultat jahrzehntelanger israelischer Besatzungspolitik. Als Sozialist*innen und Internationalist*innen stehen wir klar an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes. Die Palästinenser*innen haben das Recht auf Widerstand und (auch bewaffnete) Verteidigung gegen ihre Unterdrückung. Dennoch halten wir eine militärische Lösung des Konflikts weder für möglich noch für friedensbringend. Unzählige vorausgegangene Formen des Protests wurden von Israel und seinen westlichen Partnerstaaten kriminalisiert, diplomatische Bemühungen blieben unbeantwortet, palästinensische Symbole wurden verboten und Demonstrationen niedergeknüppelt.
Wir stehen ein für den Aufbau einer breiten palästinasolidarischen Bewegung, die sich für ein Ende der Gewalt auf beiden Seiten einsetzt und um eine politische Lösung kämpft, um die Gewaltspirale zu durchbrechen.
Hamas
Auch der Aufstieg der zutiefst reaktionären Hamas selbst ist das Resultat der gewaltvollen Besatzungspolitik der letzten 75 Jahre. Faktoren wie die erdrückende Machtasymmetrie zwischen dem israelischen Staat und den Palästinenser*innen, der Unwille das siedlungskoloniale Projekt als Voraussetzung für einen Friedensprozess zu stoppen und die Korrumpierung zuvor entscheidender Akteure wie der Fatah haben die Position der Hamas heute überhaupt erst möglich gemacht. Die Hamas sind keine progressive Befreiungsarmee und wir stellen uns entschieden gegen die von ihnen verübten, unentschuldbaren Kriegsverbrechen.
Aus unserer Sicht kann nur ein Ende der Besatzung und ein freies Leben in Würde für alle Menschen vor Ort zu einem dauerhaften Ende der Gewalt führen.
Folgen
Über 300.000 Reservist*innen sind seit der Kriegserklärung Netanjahus eingezogen worden. Zwei Tage nach Beginn des Angriffs sprach der israelische Verteidigungsminister, Yoav Gallant, davon, gegen “menschliche Tiere” zu kämpfen und befahl die vollständige Blockade Gazas. Seitdem sind 2,2 Millionen Palästinenser*innen, darunter über eine Million Kinder, von der Versorgung mit Nahrung, Medikamenten, Elektrizität und Wasser abgeschottet. “Wir werden erst alles plattmachen und dann werden die Truppen hineingehen”, kündigt der ehemalige Geheimdienstchef im israelischen Fernsehen an. Netanjahu spricht davon, Gaza in “menschenleeres Gebiet” zu verwandeln. Erst heute morgen forderte das israelische Militär über 1,1 Millionen Menschen auf, die nördlichen Gebiete vor einer drohenden Bodenoffensive zu verlassen – eine Fluchtbewegung, die in den Augen der UN “ohne verheerende humanitäre Folgen unmöglich” ist. Während der CDU-Generalsekretär Linnemann im DLF fordert, diese „unschönen Bilder auszuhalten“, stellen wir uns entschieden dagegen. Durch die andauernden Bombardierungen, die fehlenden Fluchtmöglichkeiten und die vollständige Blockade des Lebensnotwendigen bereitet der israelische Staat gerade einen Genozid an der palästinensischen Zivilbevölkerung vor, unter Duldung der westlichen Großmächte und unter mehrheitlichem Schweigen der Öffentlichkeit. Menschenrechte und ein sicheres Leben gilt es nicht selektiv zu verteidigen, sondern umfassend für alle.
Reaktionen in Deutschland
Die Eskalation der Gewalt vor Ort ruft nachvollziehbarer Weise zahlreiche Reaktionen auch in Deutschland hervor. Wir stehen als Sozialist*innen selbstverständlich gegen Rassismus und Antisemtismus und bekämpfen solche menschenverachtenden Ideologien, wo immer sie in Erscheinung treten.
Auch deswegen ist es wichtig zum Schutz von Jüd*innen aufzurufen und gleichzeitig das enorm repressive Vorgehen des deutschen Staates gegenüber Einzelpersonen und Gruppen, die sich in Deutschland für die palästinensische Befreiung einsetzen, zu kritisieren. Die Repression gegen den palästinensischen Befreiungskampf kennen wir nicht zuletzt von den Verboten der Demonstrationen rund um das Nakba-Gedenken der letzten zwei Jahre. In den letzten Tagen reagierte die Berliner Polizei auf “Free Palestine”-Rufe oder das Tragen einer Kufiya mit gewaltvollen Verhaftungen. Forderungen nach der Schließung von Zentren für islamische Kultur werden laut und der rassistische Diskurs, der in den letzten Monaten neue Höhen erreichte, setzt sich fort. Die gestern im Bundestag verabschiedete Resolution aller Parteien soll Ausweisungen und die Entziehung von Staatsbürgerschaften aufgrund von Palästina-Solidarität möglich machen und ist Zeichen einer massiven Verschärfung der Repression gegen Palästinenser*innen, die, bei Entzug der Staatsbürgerschaft, keinen Ort mehr haben, an den sie zurückkehren können. Die Kriminalisierung setzt dabei alle Menschen, die auf die Situation vor Ort aufmerksam machen wollen, unter rassistischen Generalverdacht. Während Aiwanger vor wenigen Wochen nicht aus der CSU-Koalition geschmissen wurde, trotz handfester Antisemitismus-Vorwürfe, die AfD immer neue Höchstwerte erreicht und Neonazis auf deutschen Straßen laufen, wird nun wieder die rassistische Warnung vor “importierten Antisemitismus” laut. Antisemitismus ist ein ernsthaftes Problem in dieser Gesellschaft und muss entsprechend bekämpft werden. Der Verweis auf die angeblich “Anderen” oder die Solidarität mit Israel (und damit auch mit dem aktuellen Kriegsverbrechen), ersetzen die Aufarbeitung und die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht. Gleiches gilt selbstverständlich für Rassismus in seinen verschiedenen Ausdrucksformen.
Was tun als Linke hierzulande
Als gesellschaftliche Linke hierzulande ist es unsere Aufgabe, klar an der Seite aller Unterdrückten zu stehen. Dabei sollten wir uns viel stärker an der palästinensischen, jüdischen und israelischen Linken orientieren als an deutscher Staatsräson und israelischen Staatsapparaten.
Für all die Personen, die aufgrund eines deutschen Passes oder sicheren Aufenthaltsstatus nicht von Ausweisung und Abschiebung bedroht sind, gilt es sich in den kommenden Wochen solidarisch zu zeigen und ihre Stimme deutlicher gegen die staatliche Repression und die Unterdrückung der Palästinenser*innen zu erheben und sich gleichzeitig dafür einzusetzen, dass die deutsche Regierung die israelische Besatzung nicht länger finanziell, diplomatisch und ideell unterstützt.
Ebenso gilt es, sich selbstverständlich solidarisch mit Jüdinnen und Juden zu zeigen, die vor antisemitischen Ausschreitungen sowie einem fortschreitenden Rechtsruck bedroht sind und vor diesen geschützt sein müssen.
Den Kampf gegen antipalästinensische, antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus führen wir zusammen und kämpfen für ein sicheres Leben aller marginalisierten Gruppen und eine befreite Gesellschaft.